Nach der Explosion

Khansa by Michele Imad: Beirut nach der Expolsion tanz.dance
Ein Star in Libanon: Der Tänzer Moa Khansa

Michele Imad

In Beirut am östlichen Mittelmeer konfrontiert einen nichts so sehr mit der Realität wie der Tanz, der arabische Körper, der Ungeschminkte, der nach Jahren des Schreckens sein ornamentales Kleid abgeworfen hat und ganz direkt zu einem spricht.

Man hat ja gewarnt vor dieser Reise in den Libanon. Im Norden und Osten befindet sich das vom Krieg verwüstete Syrien, im Süden die Kämpfer der Hisbollah gegen Israel im Krieg mit Palästina. Wenn was passiert, dann gibt es nicht einmal einen Seeweg nach Westen, denn Europa fürchtet ihn als Flüchtlingsroute. Es bleibt nur der Luftraum, um Beirut zu erreichen und zu verlassen – und wenn dieser geschlossen wird, ist man drin in dieser explosiven Gemengelage des biblischen Raums. Wir waren noch nicht drin, da war der Luftraum geschlossen. Und als er wieder offen war, sind wir rein in diese wunderschöne Stadt Beirut. Schön nicht, weil das legendäre „Paris des Ostens“ noch sichtbar wäre, sondern weil es eine Stadt ist, die ihre Narben zeigt, schonungslos, und nicht Willens ist, selbst an ihren schmucksten Stellen, selbst im Luxusbasar des Central District, genügend Schminke aufzutragen, um die eigene Geschichte zu übermalen. Auch der nie enden wollende Bauboom, der wie Ausrufezeichen in den Himmel ragt, verdeckt nicht die Wunden, die eine von Krieg und Bürgerkrieg traumatisierte Gesellschaft in sich trägt.

Beirut

Jo Kassis

Nach der Explosion im August 2020

Jo Kassis

Sie tanzt stattdessen, wie als würde sie aufatmen, für diesen Moment, da gerade kein Staat herrscht, keine Regierung sich bildet, kein Gegner sich auf sie stürzt, sondern nur droht. Hier tanzt man, um auszuweichen, seit der welterschütternden Explosion eines Silos im Hafen im Sommer 2020, dem Beginn einer neuen Zeitrechnung. Anderswo rechnet man die Zeit vor, während und nach Covid. Hier sagt man: Die Zeit vor und nach der Explosion und meint auch die Zeit nach der Regierung und nach der Geldentwertung. Es ist eine Zeit der Hoffnung, in der die alten Strukturen und Infrastrukturen am Boden liegen und es nun Chancen gibt für die nächste Generation, nicht mehr nur Wunden zu lecken und von Gestern zu reden, als der Tanz noch einer schicklichen Norm genügen musste.

Beirut ist der Ort in der arabischen Welt, der eine Toleranz ermöglicht, die es anderswo nicht gibt und Menschen wie magnetisch anzieht, um sich religiös begründeten Normen zu entziehen, ohne die Radikalen unter den Vorgestrigen zu provozieren, die es auch in Beirut gibt. Man ist nicht unter sich, nicht in einer Tanzszene, die mit Omar Rajeh und Mia Habis längst international vernetzt gerade ihr Bipod-Festival gefeiert hat, das seit genau zwanzig Jahren existiert als der sichtbarste Ausdruck einer Tanzbewegung, hinter deren Kulissen der arabische Körper verhandelt wird, sein Stolz vor allem. Es tut gerade gut, in Beirut zu erleben, wie der von Religion, Politik und Armut, Angst und Hunger malträtierte Körper wieder aufsteht, den Vorhang zur Seite zieht und dazu einlädt, alle Klischees, die den arabischen Raum umwehen, gründlich zu vergessen.

Shopping Mall in Central District

İrem Nur

In Bildern und Texten ist hier ein Panorama der Tanzszene Beiruts entstanden, das man so nirgendwo anders erlebt: als ein Dokument der Zeit und als einen Abenteuerbericht, wie man ihn nur mit Tanz erzählen kann.

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Land ohne Staat

3,30

Wo es keine Strukturen gibt, die Kunst ermöglichen, gibt die Kunst sich selbst ein Fest. Sie schafft sich ihre Strukturen selbst, in Beirut, einer zutiefst gebeutelten Stadt, in der alles wieder auf Anfang steht und alles wieder möglich scheint.

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